Vertraute Gegend, neue Blickwinkel

Den Weg vom Hospiz des Bernina-Passes zur Alp Grüm habe ich mit meiner Familie (sowohl Herkunfts- als auch eigene) schon gewiss ein Dutzend Mal gemacht, und auch die Wanderung vom Aussichtspunkt der RhB-Station bis Poschiavo kenne ich recht gut. Doch mit einem Säumertreck historisierend in Kolonne zu marschieren bietet ein ganz neues Gefühl. Es erfordert Disziplin und Tempo, der Rhythmus wird von den Tieren diktiert, die nicht regelmässige Stundenhalte brauchen, jedoch ab und zu eine Revision (Neueinstellen der Traggurten) oder eine Saufpause an einem Bergsee oder -bach. 
Von der Aussicht bekomme ich nicht allzuviel mit, beim Wandern muss ich auf jeden Schritt achten, um den lädierten Fuss nicht noch mehr zu strapazieren. Aber die Atmosphäre und die Solidarität im Säumerzug sind tragend, und die Landschaft ist sowieso sensationell, auch wenn sie traurige Realitäten anzeigt, wie den halbleeren Stausee Lago bianco, an dem die Motorradfahrer mit ihren Knattertöffs uneinsichtig vorbeidonnern. Der müde Witz des Puschlaver Bürgermeisters - man solle Wasser sparen und lieber Wein trinken - stellt nicht unbedingt auf. Und nun erwartet uns die hochgradige Sommerhitze im unteren Puschlav, in Tirano, dem Ziel des Zugs, soll es 35° geben heute. Man kann die Inszenierung der Säumerei auch als stillen Protest gegen die Überwältigung der motorisierten Moderne sehen.