Das Heft in die Hand nehmen - was heisst das?

 

Fritz Haber zu Sarah Kohn: "Nur noch etwas: das Geheimnis ist, den Spieß umzudrehen. Nehmen Sie das Heft in die Hand. Sie wissen, damit ist nicht das papierene gemeint. Den Vertriebenen hilft letztlich nur der Griff zur Waffe."
Sein Blick wandert sinnend über ihren ganzen Körper, als ob er ihre Stärke taxieren wollte.
"Gilt das auch für Frauen?"
"Der Griff nach der Waffe?"
"Ja."
"Nur wenn Sie diese nicht gegen sich selbst richten. Meine erste Frau hat sich mit meiner Dienstwaffe er-schossen."

 

Im Hause der Familie Zamenhof:
Das Heft in die Hand gab Lejzer dem Vater, als der Tag seiner Abreise bevorstand, suchte seine Augen, doch der wich zur Seite aus, zerstreuter Blick auf die Haarschöpfe der Geschwister, die Mutter hatte sie gerufen, Fania, Augusta, Henri, Léon und der kleine Alexander, Ida schlief wohl gerade, Felix, nun verständiger, hatte das gesenkte Haupt des großen Bruders bemerkt, und dass der Vater die erzwungene Leihgabe nicht sofort entgegennahm, die Mutter hatte eigens ein seidenes Band geholt, Felix murmelte etwas im Tonfall des Trotzes, der Vater stellte ihn zur Rede: was hast du da gesagt?

 

Wilhelm Ostwald, der die beiden Männer zusammen bringen könnte, überlegt:
Haber und Zamenhof, wenn sie sich nur zusammensetzten, würden sich gegenseitig in Bewegung schwingen, sie würden das Heft in die Hand nehmen.


Ein ehrgeiziger Zyniker gegenüber einem sanften klugen Idealisten 

Was auf den ersten Blick wie ein zugespitzter Gegensatz aussieht, wird, wenn die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven bis in ihre Verästelungen erzählt wird, zu einem spannungsreichen Pan(d)orama der europäischen Geistesgeschichte. 
Der biographisch-historische Roman bringt zwei Männer zusammen, die anfangs des 20. Jahrhunderts beträchtlichen Einfluss auf die Gesellschaft vor dem radikalen Umbruch des Ersten Weltkriegs ausübten: den Physiker Fritz Haber, der später für sein chemisch-technisches Verfahren der Ammoniaksynthese den Nobelpreis erhielt, und Ludwik Lejzer Zamenhof, Schöpfer der Welthilfssprache Esperanto.
Die ineinander verzahnten Lebensgeschichten kreisen um das je eigene Drama im Leben der Protagonisten: 

Im Falle Haber ist es der Selbstmord seiner Frau Clara (geb. Immerwahr) zur Zeit seiner Verwicklungen in die Kriegsgeschäfte Deutschlands. Seine Biographie wird gegenläufig erzählt, beginnend mit dem Augenblick der Besinnung 1933, als er von einer Schweizer Kuranstalt aus über den Bodensee in das deutsche Land hinüber blickt, dem er, der Jude aus Breslau, sich in einer beispiellosen, ehrgeizigen Karriere angedient hat, und das ihn nun unter dem Nazi-Regime ausspuckt. Im Gefühl der "schweren Fehler" in seinem Leben besinnt er sich auf die Kontroversen um die Entwicklung der Gaskampfmittel, die er mitverantwortete, die beiden Ehen, die er führte, ohne sich mit seinen Frauen wirklich verbinden zu können, und die Geldnöte, die ihn nun plagen, obschon ihn seine chemisch-industriellen Erfolge einst zu einem reichen Mann machten.

Das Lebensthema des jüdischen Augenarztes Zamenhof ist die Verständigung der Menschen in einer konfliktträchtigen Welt. Schon als Gymnasiast ersinnt er die Grundzüge einer Kunstsprache, die später als Esperanto Furore machen wird. Seine Geschichte folgt der Entfaltung seiner Talente inmitten eines schwierigen Milieus im russisch beherrschten Polen. Wirtschaftliche Engpässe und Judenpogrome bestimmen die harschen Umstände, unter denen er sich eine Existenz zu sichern sucht; die Liebe zu Klara Silbernik hilft ihm jedoch, den Kampf für seine oft als weltfremd angesehenen Ideale zu bestehen. Kurz nach dem Höhepunkt seines Aufstiegs wird die Esperanto-Bewegung von einem Verrat erschüttert - eine Katastrophe für Zamenhof, der immer für Einheit und Ausgleich kämpfte.

 

Haben sich Zamenhof und Haber je getroffen? Ein Epilog und ein Postskriptum heben die Begegnung aus dem Bereich des Möglichen zumindest ins Vorstellbare. Daniel Werner spricht hier direkt zu den Lesenden: „Als ich mit der Geschichte begann, war ich überzeugt, ich würde eine Begegnung hinkriegen, und sie würde uns zumindest Mut machen. Die rohe Gewalt des Geschehenen hat mir das Spiel mit unseren HOFFNUNGEN ausgetrieben. Es war ein VERSUCH.“